Wie dein Gehirn Frequenzen in Musik verwandelt
Wie entsteht eigentlich Musik? Die wahrscheinlichste Reaktion ist zu antworten, sie käme von einem Instrument. Oder mehreren. Aber tatsächlich entsteht Musik erst in unserem Gehirn.
Wenn die Luft Schallwellen an dein Ohr heranträgt, diese mit rund 1000 km/h durch deine Gehörgänge fräsen und schliesslich am Ende der Sackgasse mit dem Trommelfell kollidieren, setzt dieser Aufprall auf der anderen Seite des Trommelfells eine fabelhafte Kettenreaktion in Gang. Am Ende hörst du einen Ton (unsere Gesangslehrerin Lea Lu sieht dabei sogar Farben, sie ist eine sogenannte Synästhesistin). Wenn du dir ein Notenblatt anschaust, stehen da Noten, die das Alphabet für Töne sind. Spiele die Noten in der angegebenen Reihenfolge, und heraus kommt ein Musikstück. Töne müssten also Musik sein, nicht wahr? Während diese Behauptung überhaupt nicht falsch ist, ist sie aber auch nicht ganz vollständig. Was passieren muss, damit aus Tönen Musik wird, hat zu tun mit Physik, Mathematik, Biochemie, Neurologie und obendrauf einem ordentlichen Schuss Psychologie.
TL;DR: Musik als ein emotionales Erlebnis ist mehr als aneinandergereihte Töne. Sie entsteht nicht auf dem Notenblatt, sondern erst in deinem Kopf, während dein Gehirn versucht, im Tsunami von Frequenzen und Rhythmen Muster zu finden.
Gehen wir zurück an den Augenblick, in dem der Schall soeben in deinem Trommelfell ankommt. Kurz zuvor hast du eine Taste auf dem Klavier gedrückt, die Saite deiner Geige gestrichen, auf ein Tom deines Drumsets geschlagen – egal, was. Jetzt beginnt der physikalische Teil des Hörens, denn diese Bewegung hat ihrerseits wiederum Luft in Schwingung versetzt, und diese Schwingung wurde zu deiner Ohrmuschel und durch die Windungen deines Gehörgangs zum Trommelfell, einem dünnen Häutchen, getragen.
Hier beginnt der anatomische Teil des Hörens: Das Trommelfell gibt die Schwingung weiter an die kleinsten Knochen deines Skeletts, die mit einem aufgekringelten Rohr verbunden sind, in dem feinste Härchen von einer zähen Flüssigkeit umgeben sind. Sobald sich die Flüssigkeit zu bewegen beginnt, werden bestimmte Härchen gebogen.
An diesem Punkt beginnt der neurologische Teil des Hörens: Wird ein Härchen stark genug gebogen, entlädt sich an seiner Wurzel eine elektrische Spannung, die ins Gehirn hochschiesst und vom Gehörzentrum aufgefangen wird. Dort wird der Impuls von Zelle zu Zelle gereicht, bis diejenige an die Reihe kommt, die für genau dieses Signal zuständig ist. In dem Moment flackert unser Bewusstsein auf und wir registrieren den Ton.
Die Schallwelle, die den Ursprung des Tons in deinem Kopf bildet, lässt sich als eine sogenannte Sinuskurve abbilden und hat eine Frequenz. Frequenzen werden in Hertz (Hz) angegeben, und die Töne, die als Sinuskurven durch Raum und Zeit schiessen, nennt man Sinoidaltöne. Sinodialtöne haben eine Grundfrequenz und Obertöne, die Vielfache der Grundfrequenz sind. Bestimmte Härchen reagieren auf bestimmte Frequenzen, und das zu wissen, hilft zu verstehen, was Harmonien sind – das nächste Rätsel um die Musik.
Um eine Harmonie zu erhalten, reicht ein Ton allein nicht aus. Es braucht mehrere davon, und diese müssen erst noch die richtigen Frequenzen haben. Die Töne in Kombination erklingen in deinem Ohr konsonant (ein anderes Wort für „harmonisch“), wenn die ihre jeweiligen Frequenzen in einem günstigen Verhältnis zu einander stehen. Mehrere Töne mit derselben Grundfrequenz oder geteilten Obertönen klingen angenehm, harmonisch eben.
Ein hervorragendes Beispiel, um diese Sache mit den Frequenzen und der Harmonie zu verstehen, ist das Stimmen einer Gitarre: Während du an der Mechanik drehst und den Ton höher oder tiefer schraubst, kannst du problemlos hören, wie die Wellenformen beider Töne sich langsam an einander anschmiegen oder sich zu verheddern beginnen. Wo die Schwingung der Saiten ein Muster innerhalb desselben Frequenzbereichs erzeugt, ist Harmonie gegeben, ansonsten nicht. Harmonie ist also eine knochentrockene mathematische Angelegenheit.
Jetzt stell dir vor, du hast einen herzerwärmenden Dreiklang angeschlagen. Die Harmonie könnte süsser nicht sein, ein wohliger Schauer fährt dir durch den Rücken und die Gänsehaut kriecht runter bis auf deine Handflächen. Und trotzdem: Nach ein paar Sekunden ist der Rausch durch, und mit jedem Mal, das du deinen Killer-Dreiklang erklingen lässt, hält das wohlige Gefühl weniger lang. Bis zum Schluss gehst du gelangweilt zum Putzschrank und fängst an Glühbirnen zu sortieren.
Was dir nämlich noch fehlt, ist eine Geschichte, ein Thema mit einem Spannungsbogen, lauter kleine Nebenschauplätze, einen Twist oder zwei und zum Schluss eine gelungene Auflösung. Mit anderen Worten: Dir fehlt die Melodie. Während Töne ein physikalisches, anatomisches und neurologisches Phänomen sind und Harmonien mathematischen Gesetzmässigkeiten folgen, setzt bei der Melodie die Psychologie ein. Es ist die rhythmische Abfolge von Frequenzen, die aus der Harmonie eine Geschichte macht. Wir Menschen mögen zwar Sonnenbaden, fettiges Essen und bequeme Schlafplätze – aber wir LIEBEN Stories. Unsere Gehirne sind verrückt nach Geschichten, weil sie alles in eine logische Abfolge bringen und für Ordnung sorgen (spoiler alert: Das ist auch das Scharnier zwischen den Tönen und der Musik). Allerdings sind sie bei den Geschichten ganz schön anspruchsvoll – ist der Plot zu leicht durchschaubar, zu einfach, langweilen wir uns schlagartig. Und ist die Sache zu verdreht und verworren, zu kompliziert, tun wir es ohne Umschweife als Lärm ab.
Die kritischen Lesenden werden sich hier zu Recht fragen: Wer oder was entscheidet denn darüber, dass die Melodie zu simpel oder zu abgehoben ist? Die Antwort lautet: Es sind unsere individuellen Assoziationen, die inneren Bilder und Stimmungen, die von den Harmonien und deren Verlauf ausgelöst werden. Es ist eine Frage des persönlichen Geschmacks, aber auch des gesellschaftlichen Umfelds, dem wir beim Aufwachsen ein gewisses Ästhetikempfinden abgeguckt haben. Und mit dieser Vorlage für das Schöne und Spannende im Leben treten wir nun mit einer gewissen Erwartungshaltung an diese Melodie heran; wir malen uns aus, was als nächstes passieren wird. Dass wir uns nicht einfach von der Melodie berieseln lassen und dabei den Kopf komplett ausgeschaltet haben, hat mit unserm Gehirn und dessen im wahrsten Sinne neurotischen Verhältnis zu Mustern zu tun. Das Gehirn ist Spezialist im Muster erkennen. Das ist notwendig, damit wir uns schnell durch den Alltag bewegen können, ohne uns mit jeder Einzelheit eine Ewigkeit lang beschäftigen zu müssen: Blitzartig Regelmässigkeiten in unserem Umfeld erkennen zu können, hilft uns Gefahren vom Angenehmen zu trennen. Tatsächlich ist das Gehirn so scharf auf Muster, dass es auch da, wo überhaupt keine sind, uns hartnäckig glauben machen will, dass eben doch welche da wären (wenn wir beispielsweise den Mond angucken und darin ein Gesicht sehen oder Wolken für uns wie Tiere aussehen).
Diese hyperpotente Mustererkennungsmaschine in unseren Köpfen ist es nun auch, die aus Tönen endlich Musik macht: Wenn ein ganzes Orchester mit 50 Instrumenten losdonnert, ist selbst das menschliche Gehirn überfordert damit, die einzelnen Frequenzen in Töne zu übersetzen, jeden einzelnen mit allen anderen als Harmonien in ein Verhältnis zu setzen und simultan der Melodie zu folgen. Was das Hirn genialerweise stattdessen macht, ist das: In diesem Tsunami von Tönen sucht es nach übergeordneten Mustern und folgt einfach denen. Dank dieser drastischen Reduktion von Komplexität muss das Gehirn nicht schon bei Weihnachtsliedern fortfait erklären, sondern kann sich die epischsten Stücke geben und uns dabei vollsten Genuss bescheren. Um genau zu sein: Der Genuss steckt nicht a priori in den Noten und Tönen, sondern entsteht, wenn im Gehirn Kaskaden von neuronalen Feuerwerken an Belohnungshormonen losgehen, mit denen uns die Evolution für unsere Fähigkeit, Muster (also in diesem Fall Harmonien) zu erkennen, belohnt. Diese Fähigkeit ist einerseits geprägt durch unsere Herkunft – Free Jazz erschliesst sich nicht jedem auf Anhieb – und andererseits auch durch unsere Gene: Weil wir nicht nur Augenfarbe und Statur in unser Erbmaterial packen, sondern auch individuelle Fähigkeiten zum Erkennen von musischen Mustern, wird plötzlich nachvollziehbar, wieso Musik als universelle Sprache funktioniert. Und die Endorphine (die Glückshormone) brodeln so richtig hoch, wenn das Stück genau den Sweet Spot trifft, wo die schöne Ordnung der süssen Harmonien an den richtigen Stellen von würzigen Disharmonien durcheinandergewirbelt wird. Nur Harmonie und keine Disharmonie unterfordert das Gehirn, während das Gegenteil es überfordert. Wir erleben Musik als emotionale Empfindung darum am befriedigendsten im Spannungsfeld zwischen völliger Vorhersehbarkeit und totaler Unvorhersehbarkeit.
Im Musikunterricht werden nicht nur Fingerfertigkeiten geübt, sondern auch die Sinne geschult, die uns im Umgang mit anderen Menschen helfen. Und es sieht ganz so aus, als ob dieser sozialen Komponente von Frequenzen und Harmonien zu einem guten Stück für das Privileg zu danken ist, dass wir Töne als Musik erleben können.
Video zum Thema: http://youtu.be/i_0DXxNeaQ0
Weitere Quellen:
http://www.quora.com/Why-do-certain-musical-notes-sound-good-together
http://www.ethanhein.com/wp/2013/can-science-make-a-better-music-theory-2/
http://www.quora.com/Can-Earworms-be-created-artificially
Lehrer, Jonah (2008): Igor Stravinski. The Source of Musikc. In: Proust Was a Neuroscientist, Kapitel 6. First Mariner Books. Boston, New York. S. 120-143.
Bild: Gerardo Lazzari via http://www.imcreator.com/
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